Aus der Erde schöpfen

Martin Rauch, Netzwerk, von Marina Hämmerle, 2. April 2025

Anna Heringer und Martin Rauch

Im Gespräch mit Marina Hämmerle

Langfassung des Interviews im Rahmen des Buchprojektes Architektur in Vorarlberg

Kooperation ist heutzutage nicht nur in Prozessen gefordert, sondern hält auch Einzug in die moderne Bau- bzw. Holzbautechnologie. Lokale Techniken und natürliche Materialen wie Lehm, Stroh, Trass, Kalk, Hanf u. v. m. ermöglichen hybride Konstruktionen, die das Spektrum der Qualitäten und Möglichkeiten des Holzbaus erweitern. Im Sinne einer kreislauforientierten Wirtschaft und eines steigenden Bewusstseins der Bauherrschaften für ökologische Baustoffe gewinnen diese Bauweisen an Bedeutung. Anna Heringer und Martin Rauch verfolgen diese Ansätze seit Studienabschluss mit Innovationsfreude, bringen einfaches Bauen und Beteiligung zurück ins Spiel und schöpfen aus entlegenen ‚irdenen‘ Kulturen.

Euch beide verbindet nicht nur das Material Lehm und die Liebe zur Architektur, sondern ihr teilt auch das Interesse an anderen Kulturkreisen und traditionellen Fertigungstechniken.

Anna Heringer: Richtig. Mich zog es mit 19 Jahren nach Bangladesch, weil ich das Leben aus einer anderen Perspektive sehen wollte. Das Ergebnis dieser NGO-Tätigkeit war die Erfahrung einer glücklichen Genügsamkeit. Dort lernte ich: Die effektivste Strategie für nachhaltige Entwicklung ist es, zuerst Potenziale und Ressourcen im Umfeld und in uns selbst zu erfassen.

Hattest du damals schon die Ambition, Architektin zu werden?

AH: Ja, das stand tatsächlich schon im Raum. Allerdings wurde ich in Bangladesch diesbezüglich verunsichert, weil ich dort das ‚echte‘ Leben erfuhr und mich die Angst plagte, die Architektur könnte dem nicht gerecht werden. Ich erlebte dort sowohl einen starken kreativen Impuls als auch die Leidenschaft für Entwicklung und soziale Gerechtigkeit. Als ich dann jedoch in Linz die Kunstuniversität betrat, fühlte ich mich am richtigen Ort. Roland Gnaiger und die Vorarlberger Linie waren bewusst gewählt, die Ökologie war mir sehr, sehr wichtig.

Martin, du hast ebenfalls schon während deines Studiums – zwanzig Jahre früher – Häuser für Afrika geplant. War für dich das dortige soziale Engagement deines Bruders Franz dein persönlicher Anstoß?

Marin Rauch: Ich stamme aus einer bäuerlichen und zugleich künstlerischen Großfamilie, habe sieben Geschwister. Schon während meiner Keramiklehre besuchte ich Mitte der 1970er Jahre meinen ältesten Bruder Franz in Afrika. Mein Vater sowie alle Geschwister teilen den Hang zur kreativen Selbstermächtigung, zum sozial verträglichen Gestalten und Leben; durch sie kam ich unmittelbar mit diesem Feld und dem Lehmbau in Berührung. 1984, im Zuge meines Keramikstudiums an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, absolvierte ich zwei Semester Architektur bei Professor Willhelm Holzbauer. Meine Teilnahme am internationalen Wettbewerb Low Cost Housing for Africa bescherte mir den ersten Preis – eine große Motivation, diesen Weg weiterzugehen. Der Projektansatz kann überzeugen, hat nach wie vor Gültigkeit – jetzt, nach vierzig Jahren, arbeiten wir an dessen Umsetzung, jetzt scheint die Zeit dafür reif. Seit damals war ich immer wieder in verschiedene Bauvorhaben in Afrika einbezogen, so gesehen entwickelte sich zu diesem Kontinent eine lebenslange Achse.

Was verbindet euch beide mit der Vorarlberger Holzbaukunst oder generell mit den Baukünstlern und hier tätigen Architekt:innen?

MR: Essenziell für meine Entwicklung waren die soziale Konstellation und die Region. Schon meine Diplomarbeit und meine erste Selbstständigkeit liefen unter dem Titel Lehm Ton Erde – Werkstätte für Keramik und Lehmbau. 1986 kam ich mit meiner Frau zurück nach Schlins, in das Umfeld meiner Großfamilie. Der Nährboden hier in Vorarlberg war für mich ideal und die Nähe zu den Vorarlberger Baukünstlern war für mich früh gegeben, Ende der 1970er Jahre. Beispielsweise entwarf Rudolf Wäger das Haus meines Bruders Franz, in dem auch ich einige Zeit wohnte. Schon damals erschien mir Lehm eine gute, klimaregulierende Ergänzung dieser wegweisenden Häuser, und so kam er beim nächsten innerfamiliären Hausbau zum Einsatz: Von 1982 bis 1986 brachten wir Lehm in verschiedenen Anwendungen – gemeinsam geplant und umgesetzt – im Haus meines Bruders Johannes ein. Das sprach sich in unserem Freundes- und Bekanntenkreis herum, in der ökologiefreundlichen Vorarlberger Community begann das Interesse für Lehm zu keimen, es herrschte damals große Aufbruchstimmung. Die Bürger:innen übernahmen Verantwortung, formierten sich sogar zu einer Partei der Unabhängigen. Etliche Projekte entstanden, beispielsweise mit Wolfgang Juen, Hermann Kaufmann, Wolfgang Ritsch und anderen. Bei der ersten Ausstellung über die Vorarlberger Baukünstler, 1988 im Palais Thurn und Taxis, wurde der Lehmbau dann erstmalig öffentlich sichtbar und 1989 katapultierte der Wettbewerbsgewinn für die 150 Meter lange Stampflehmwand im Landeskrankenhaus Feldkirch das Unternehmen Lehm Ton Erde in eine andere Anwendungsdimension – ein Meilenstein für mich und das Thema.

Und was unterscheidet dich, Anna, von den Baukünstlern und deren Nachfolgenden? Fällt darunter auch deine Prämisse Form follows Love?

AH: Angezogen hat mich die Nachhaltigkeitsebene – optimierte Form und pragmatische Herangehensweise basieren hier grundsätzlich auf ökologischer Ausrichtung und dem Gemeinsinn für Landschaft und Handwerk. An Vorarlberger Bauten begeistert mich das ausgereifte Materialverständnis, die Perfektion im Detail. Manchmal fehlt mir die Farbe oder das Weibliche, das fehlt mir wirklich. Lehm bringt diese Komponente ein, für mich ist er ein weibliches Material. Viele unserer gemeinsamen Projekte, wie die regenerative Höhle bei Omicron oder das Geburtshaus beim Frauenmuseum in Hittisau, formten wir regelrecht mit der Hand. Neben dieser erdigen Haptik trugen Licht, Farbigkeit, Glasmosaike zur sinnlich-entspannenden Atmosphäre bei. Für mich repräsentiert Holz den Rhythmus und Lehm die Melodie – er ist für mich die tonangebende Materie.

MR: Zweifelsohne ist die sogenannte Vorarlberger Bauschule sehr holzgeprägt und technologiefreundlich. Holz wird mit der Maschine geschnitten, es erfordert Präzision in Planung und Ausführung, die Kunst der Linie und Fuge, eine gewisse Rhythmik. Wird der Holzbau mit Lehm kombiniert, dann kommt ein handwerklicher Maßstab ins Spiel, erweitert sich der Handlungsspielraum.

Das Phänomen der Vorarlberger Bauschule basiert ja zu einem gewichtigen Teil auf dem ebenso entwicklungsfreudigen Handwerk. Wie erlebt ihr die Zusammenarbeit mit der lokalen Handwerkszunft?

MR: Für die Pioniere der Baukünstler war eine der Prämissen, kostengünstig zu planen; oft resultierten daraus minimale Konstruktions- und Wandstärken, welche die heutigen Normen definitiv unterwandern würden. Im Gegenzug zeigte sich die Raffinesse im Detail, in den Proportionen und der Kompaktheit der Grundrisse. Diese prägende Haltung machte die heimische Holzbauarchitektur im gesamten Alpenbogen und darüber hinaus bekannt.

Das Phänomen der ‚Vorarlberger Bauschule‘ basiert ja zu einem gewichtigen Teil auf dem ebenso entwicklungsfreudigen Handwerk. Vor allem der Zusammenschluss Werkraum Bregenzerwald ist ein Vorzeigemodell in Europa. Wie erlebt ihr die Zusammenarbeit mit der lokalen Handwerkszunft?

MR: In den Anfängen war die Architektur sehr innovativ – ressourcenschonend, materialsparend, minimalistisch, neue Wohnkonzepte fördernd. Meine Erfahrung zeigte, die Bauherrschaften waren in Bezug auf Lehm oft die treibende Kraft und die Architekten mussten sich damit arrangieren. Später sollte sich das Blatt wenden, als sich Konsumismus und Digitalisierung ihren Weg in die Gesellschaft bahnten. Lange Zeit stagnierte die Entwicklung des Lehmbaus, selbst die Holzbauer sahen den Lehmbau eher mit Skepsis. Lehm ist Dreck, macht die Baustelle schmutzig und verkompliziert den Ablauf. Es gab viel Aufklärungsbedarf; die com:bau, die Baumesse in Dornbirn, entpuppte sich für den Lehmbau und seine Qualitäten als gute Plattform der Wissensvermittlung. Lehm wurde zum Mitspieler für den Passivhaus-Standard und punktete wegen seiner Speichermasse und -fähigkeit beim kooperierenden Handwerk sowie bei der Bauherrschaft hinsichtlich Behaglichkeit und klimaausgleichender Wirkung. Lehm hat das, was Holz nicht hat, und umgekehrt; diese Synergie sich ausbalancierender, ergänzender Eigenschaften beginnt man in Vorarlberg zu begreifen und auch politisch zu unterstützen.

AH: Der Mut, gepaart mit Neugier, den man hier in Vorarlberg vorfindet, und das Schätzen von Herausforderungen im Architekturschaffen erscheinen mir einzigartig. Da wähnt man sich fast im Paradies, was planerische und handwerkliche Kooperation anbelangt, denn sie spielt sich auf Augenhöhe ab. Vergleicht man das beispielweise mit Deutschland, liegen Welten dazwischen. Mich beeindruckt, wie hierzulande im Bauwesen Verantwortung übernommen wird, dazu braucht es besondere Material- und Handwerkskenntnisse, die im Vergleich mit anderen Regionen überdurchschnittlich vorhanden sind. Was ich mir manchmal wünschen würde, wäre weniger Angst vor der urbanen Dichte.

Das leitet über zum Maßstabssprung, der sich beispielsweise am Basler Projekt Hortus, geplant von Herzog & De Meuron, nachvollziehen lässt: Hybride Konstruktionen mit Holz erweisen sich als neues Feld des ökologischen Bauens.

MR: Die Debatte um Nachhaltigkeit und Klimaänderung weckt zusehends Interesse an hybriden, naturbasierten Bautechnologien und fördert den aktuellen Trend des Reuse, Recycle, Repair. Diese Erkenntnisse waren zwar schon in den 1970er/1980er Jahren verbreitet, wurden aber politisch nicht ernst genommen. Heute werden sie zunehmend thematisiert und es wird nach Lösungen gesucht. Es zeigt sich: Die Kombination Holz und Lehm ist der absolute Champion – Holz als bester CO2-Speicher und Lehm als Ressource vor Ort. Das Holz liefert die Statik und das Aushubmaterial Lehm wirkt als temperaturausgleichende Speichermasse, beispielsweise in tragenden Wänden, in der Deckenkonstruktion oder als Ausfachung in Kombination mit Hackschnitzeln, Hanf oder Stroh. Die Vorzüge dieser CO2-Bilanz machen einen Riesenunterschied. Dies wird erkannt und wir verzeichnen zunehmendes Interesse seitens der Auftraggeber und Planenden an dieser Bauweise. Dennoch stellen die Kosten immer noch das größte Problem dar. Der Kostendruck ist derzeit generell enorm, auch für ökologische Bauten. Diese zirkuläre Bauweise müsste eigentlich günstiger werden, das Gegenteil ist oft der Fall.

Für mich repräsentiert Holz den Rhythmus und Lehm die Melodie – er ist für mich die tonangebende Materie.

Anna Heringer

AH: Die fehlende Kostenwahrheit beim Bauen – graue Energie wird oft nicht eingepreist – ist eklatant. Sie zeigt auf: Unser Wirtschaftssystem ist manipulativ. Einfaches, zirkuläres und nachhaltiges Bauen wird nicht entsprechend gefördert. Die Entsorgung einer Tonne Aushubmaterial beläuft sich aktuell auf ca. 40 Euro; das macht bei einem Einfamilienhaus rund 15.000 Euro aus. Bauherrschaften zahlen dafür, sich dieses Materials zu entledigen, dabei ist Lehm das billigste Baumaterial der Menschheit überhaupt. Der Kostentreiber, abgesehen von den Grundstückspreisen, ist beim Bauen die hohe Besteuerung der Arbeitsleistung, der menschlichen Energie; negative Auswirkungen auf die Natur, auf die Umwelt werden hingegen nicht besteuert. Dieser Umstand ist keine Naturgewalt und könnte morgen geändert werden.

Wie sieht es im Gegenzug bei der Wissensvermittlung aus? Ihr arbeitet mit namhaften Architekturschulen und Studios zusammen, die sich explizit mit zirkulärem, hybridem Bauen beschäftigen. Gibt es diesbezüglich in der Ausbildung Aufholbedarf?

AH: An der Universität Liechtenstein ist das Thema tatsächlich angekommen, gleich in mehreren Studios. Offensichtlich zeigt die Nähe zu Schlins Wirkung. Über Roland Gnaiger zog sich diese Bauphilosophie bis nach Linz, an der ETH wird diesbezüglich ebenso geforscht und gearbeitet, Vorreiter sind dort Hubert Klumpner und Guillaume Habert, seit 2015 werden wir beide immer wieder bei Planungs- und Forschungsprojekten beigezogen.

MR: Dennoch gibt es im Großen und Ganzen einen erheblichen Nachholbedarf, das Angebot ist bei weitem nicht gegeben. Solange der Lehmbau nicht in jeder Bauhandwerkerschule oder HTL in ganz Europa unterrichtet wird, kann man die Skalierung im großen Stil vergessen, weil es keine Fachkräfte gibt. Darum scheuen sich Firmen, in den Lehmbau zu investieren. Die Breitenwirkung zeitgenössischen Lehmbaus steht und fällt mit der Ausbildung. Mit Vertreter:innen des zuständigen Ministeriums und der Wirtschaftskammer gab es hierzu schon etliche Gespräche; wir setzen uns dafür ein, dass eine Ausbildung zum Lehmbau-Facharbeiter, eine Kaderlehre, und auf HTL-Ebene zumindest Lehmbau-Module künftig angeboten werden. Hierzu wird auf mehreren Ebenen verhandelt, derzeit aber noch nicht an staatlichen Schulen.

Euch kommt diesbezüglich wahrscheinlich eine tragende Rolle zu. Anna, deine Projekte in Asien und Afrika zeigen eindrücklich, wie sich das Zusammenspiel von Lehm und Holz in aussagekräftigen Strukturen manifestieren kann. Was bringst du von dort mit und hier ein?

AH: Bei den Projekten in Südostasien spielt der Prozess eine große Rolle. Es erscheint mir fundamental, dass er mitentworfen wird, da Partizipation ein Grundbedürfnis ist. In Indien ist es selbstverständlich, dass Kinder und Frauen beim Bau der Schule mitmachen. Lehm ist inklusiv. Lehm braucht kein schweres Gerät, keine besonderen Werkzeuge, er birgt keine Verletzungsgefahr, vieles wird einfach mit den Händen gemacht. Von jeher verweilten die Kinder beim Selberbauen, Bauen ist Teil unserer menschlichen DNA. Die Architektur wird jedoch in den Industrienationen immer digitaler und zunehmend vorgefertigt. In unseren Projekten in Europa schaffen wir deshalb gezielt Bereiche in der Planung, die beteiligte Nutzer:innen – seien es Kinder oder Erwachsene – fertigen können. Beim Campus St. Michael in Traunstein waren das eine Sitzlandschaft in Lehm, veredelt mit Tadelakt, und Lehmreliefs im Holzbau. Besonders eindrücklich war die Erfahrung im Wormser Dom, wo alle beim Altar mitgestampft haben. Im gemeinsamen Bauen, oft ausgeführt in nonverbaler Kommunikation, liegt eine unheimliche Kraft, sie schafft einen großartigen Zusammenhalt unter den Beteiligten. Aus Ländern des globalen Südens lernen wir: Der Prozess ist genauso wichtig wie das, was am Ende herauskommt. Selbstausdruck, Selbstwirksamkeit sind wertvolle Aspekte, die beim einfachen Bauen leicht umsetzbar sind – sofern man ihnen Raum gibt.

Die Arbeitsgemeinschaft Heringer Rauch hat mittlerweile schon viele Objekte vorzuweisen. Was könnt ihr im Duett besser?

AH: Wir können uns gemeinsam besser entfalten, da wir uns ergänzen. Wir haben ein Instrument gefunden, das unsere Arbeitsweise fusioniert.

MR: Anna und ich starten unterschiedlich in den Entwurfsprozess, ich beginne bei A und sie bei Z. Dieses Kooperieren, aus unterschiedlichen Positionen heraus, habe ich schon als Student an den Bildhauersymposien von Maria Biljan-Bilger in St. Margarethen im Burgenland erfahren: Bildhauer, Maler, Keramiker und Architekten arbeiteten zusammen. Dieses interdisziplinäre, gemeinsame Schaffen hat mich während meines Studiums sehr geprägt und kam meinen verschiedenen Neigungen sehr entgegen. Zurück in Vorarlberg habe ich genau das weiterhin praktiziert – mit den Architekten hier im Land war es immer ein gemeinsames Entwickeln auf Augenhöhe. Mit Anna zusammen ist es noch ausgeprägter, …

AH: … und das ohne Worte. Wir können nämlich anfangs nicht gut darüber sprechen, da wir mit unterschiedlichen Ansätzen beginnen. Wie Martin schon erwähnte, muss ich beispielsweise das Gebäude zuerst erspüren, ein Gefühl dafür bekommen, wie es sein soll. Da interessiert mich kein Eingang, keine räumliche Organisation, sondern die passende Stimmung des Hauses. Dennoch kann ich viel mehr ich selbst sein, weil Martin auf meine Suche gelassen reagiert. Macht er jedoch ein unzufriedenes Gesicht, weiß ich, es stimmt nicht. Martin hat ein untrügliches Gefühl dafür, was statisch geht, was das Material leisten kann.

Die Kombination Holz und Lehm ist der absolute Champion – Holz als bester CO2-Speicher und Lehm als Ressource vor Ort.

Martin Rauch

MR: Mein Ausgangspunkt ist die Machbarkeit. Wie lässt es sich realisieren? Mich leitet der materielle, der menschliche Maßstab, die Gefühlsstatik. Unsere Methode des Claystormings, dieses wertfreie, offene Geschehen-Lassen, zeichnet unsere Zusammenarbeit aus. Bei diesem intuitiv erarbeiteten Modell, dem dreidimensionalen Skizzieren mit Lehm, lassen sich Elemente einfach wegschneiden oder hinzufügen. Und die Bauherrschaft versteht sofort.

AH: Man schöpft aus der Fülle und bleibt im Fluss. Du lässt dich leiten von deiner Intuition, deinem Gefühl …

MR: … und dann wird es immer feiner, immer ausgefeilter. Der Lehm lässt diese Nuancierungen zu.

Was war für euch ein Highlight hierzulande, bei dem die Vorarlberger Bauschule Spuren hinterließ?

AH: Der Gebärraum in Hittisau war ein wunderbarer kollektiver Prozess, bei dem sich die beiden Initiatorinnen und Co-Gestalterinnen Anka Dürr und Sabrina Summer, die vielen Bregenzerwälderinnen mit ihren monetären Projektspenden sowie Brigitta Soraperra und das Frauenmuseum als Motor und Plattform so intensiv eingebracht hatten.

MR: Das Objekt entsprang dem starken Wunsch nach einer alternativen Gebärstation in Vorarlberg. Obwohl es eine sehr weibliche, unübliche Form hat, ist es ein sehr einfaches Bauwerk – reduziert auf drei Materialien: Holz als Fundament, Lehm als Körper, Schindeln als Haut. Eine archaische Form, einfach und kostengünstig gebaut.

Und wo und woran seid ihr glücklich gescheitert?

AH: Ein schöner Wettbewerbserfolg mit Nägele Waibel Architekten, eine Bauschule mit Ausstellungsräumen für Marrakesch in Marokko, wurde leider nicht gebaut. Aber das Gute daran war, bei diesem Projekt wandten wir gemeinsam mit den Architekten zum ersten Mal das Claystorming an, es beflügelte uns sehr.

Eure Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet und stößt auf ungebrochen positives mediales Echo. Die weltweit renommiertesten Museen wie das MoMA in New York und das MAM in São Paulo oder die Biennale in Venedig bemühen sich um eure Beiträge. Anna, du bist als Jurorin und ihr seid beide als Redner:innen sehr gefragt. Gibt es einen Preis, eine Ausstellung, eine Würdigung, die euch besonders wertvoll ist?

MR: Honorarprofessor der UNESCO. Der damit verbundene Auftrag besteht darin, den Lehmbau zu verbreiten. Das ging von Frankreich aus, üblicherweise ist dies mit einem UNESCO-Lehrstuhl verknüpft, ergeht also ansonsten ausschließlich an universitäre Institutionen weltweit.

AH: Dominique Gauzin-Müller, Martin und ich sind die einzigen drei Personen, welche diese Auszeichnung bis dato erhielten. Es gibt keinen finanziellen Nutzen daraus. Wir sind sozusagen offizielle Botschafter und Botschafterinnen für den Lehmbau.

MR: Viele Player, die heute im Lehmbau etwas bewirkt haben, hatten zuvor mit uns Kontakt. Fast könnte man meinen, wir sind die Quelle dieses Flusses.

AH: Halt, halt! Du bist meine Quelle. Obwohl schon in meiner Maturazeitung stand, Anna wird mal Lehmhäuser à la Hundertwasser bauen, dachte ich während meines Studiums angesichts der einschlägigen Tendenz in Fachmagazinen, das muss wohl eine Hippie-Fantasie gewesen sein – bis ich Martin im BASEhabitat von Roland Gnaiger kennenlernte. In dem Moment, als ich meine Hände im Material drin hatte, wusste ich, das ist mein Weg … So gesehen bin ich nur Quelle zweiten Grades.

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